Mikrokinematografie

Fallstudie, EDU_COLL_017


Tiefseekrustazee
Das große Gebiet der wissenschaftlichen Lehr- und Forschungsfilme war seit Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur in den Disziplinen Ethnologie, Physik, Chemie, Technik, Archäologie, Psychologie (Verhaltensforschung) oder Medizin, sondern vor allem in den Lebenswissenschaften von großer Bedeutung. Mikroskopische Bewegtbild-Aufnahmen von Phänomenen, die uns im Alltag umgeben, aber zu klein sind, um sie mit bloßem Auge zu sehen, faszinierten – und das nicht nur, weil in diesen Fällen die filmische Aufnahme für die Wissensproduktion unmittelbar notwendig war. Die Mikrokinematografie spielte auch deshalb eine herausgehobene Rolle in Debatten über den Zusammenhang von Film und Wissenschaft, weil sie einerseits der Idee des "sachlichen", "neutralen" und "objektiven" Lehrfilms mustergültig entsprach, der vom Unterhaltungskino klar abgegrenzt werden konnte. Andererseits eigneten sich diese Filme für viele verschiedene Kontexte und Zielgruppen und wurden gerne ebenso in unterhaltenden populärwissenschaftlichen Sphären gezeigt.

Der Film konnte entlang dieser Aufnahmen also nicht (nur) als Abbild der Wirklichkeit betrachtet werden, wie die zeitgenössischen Mikrokinematografen gerne behaupteten, sondern vielmehr als Reproduktion, die bereits eine ästhetische anschauliche Umgestaltung der Wirklichkeit darstellt. Die vergrößerten Zuckungen und flackernden Herzbewegungen des gewöhnlichen Wasserflohs zum Beispiel, mit Hilfe von "Zeitdehnern" verlangsamt, wurden in Lehrfilmen in der Volks-, Schul- und Hochschulbildung gezeigt. Schließlich dokumentieren zahlreiche euphorische Berichte ein eindrückliches Seherlebnis über die Generationen hinweg. Noch 1950 betonte Sikora, Lehrer und ehemaliges Mitglied des Schulkinobundes, die Bedeutung und Nachhaltigkeit von Lehr- und Forschungsfilmen in der Biologie und den Biowissenschaften:

"Auch in der Biologie wird sich der Film absolut durchsetzen, vor allem in der Kombination mit Animationsfilmen oder als reiner Animationsfilm, aber auch mit den Möglichkeiten, die der Einsatz von Zeitraffer und Zeitlupe bietet. Ebenso wird das Leben eines Tieres und seine Bewegung, ob in der Heimat oder erst recht in fremden Gefilden, auf Film viel klarer und anschaulicher dargestellt als in einer noch so guten Fotoserie."
(Josef Albrecht/Josef Sikora: Lichtbild und Schmalfilm in Schule und Volksbildung, Wien 1950, 11)

Bei der Mikrokinematografie ging es auch darum, die eigenen forschungsrelevanten Erfahrungen, also die eigene Forschungspraxis, sichtbar zu machen, die wiederum die Praxis der Lehre mit Lichtbildern und Filmen mitbestimmte. In den Beiträgen zur Mikrokinematografie aus dieser Zeit fällt auf, dass es neben der faszinierenden Visualisierung des Unsichtbaren vor allem auch um die Darstellung des apparativ Möglichen geht, um eine Vielzahl sensibler optischer Werkzeuge und Maschinen; am deutlichsten zeigen dies die eigens konstruierten Kombinationsgeräte.

Die so genannte "Kinematographie des Unsichtbaren" blühte in Österreich, aber auch international. Ein prominentes internationales Beispiel dafür ist der Filmemacher Jean Painlevé (1902–1989), dessen frühes Mikrokino der Filmwissenschaftler James Leo Cahill als "zoologischen Surrealismus" bezeichnete. Im Wien der 1920er und 30er Jahre waren Otto Storch (1886-1951), Ewald Schild (1899-1962) und Ferdinand Scheminzky (1899–1973) die prominentesten Forscher, Hochschullehrer und Pädagogen, die mikrokinematografische Filme herstellten und präsentierten. Storchs Lehrfilmserie "Eine Welt im Wassertropfen" entstand 1920 im Zuge der ersten systematischen Lehrfilmproduktion der Staatlichen Filmhauptstelle, die Experten aus der Industrie, Wissenschaft und Hochschullehre wie Storch beauftragte. Filmaufnahmen eines Wassertropfens unter dem Mikroskop – vielleicht Storchs Aufnahmen, vielleicht andere – bilden auch den krönenden Abschluss des Lichtbild- und Filmvortrags "Die Erlebnisse eines Wassertropfens", der in verschiedenen Varianten zwischen 1913 und 1924 in der Wiener Urania zu sehen war. Hier ist er mit den Lichtbildern und dem Vortragsskript vom Ende seines Laufs dokumentiert.

(Text und Fallstudie: Katrin Pilz)

BILD: Tiefseekrustazee, Glasdia Nr. 10 zum Repertoire-Vortrag (mit Kinematogrammen) "Die Erlebnisse eines Wassertropfens" von Lehrer Ferdinand Bernt, 1919/20, Österreichisches Volkshochschularchiv, Wien Signatur: B-VID Skio-Urania 310/10.

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