Was sind Lehrfilm-Praktiken?


Eine kurze Antwort in vier Bildern:

Auf die Praktiken des Lehrfilms zu fokussieren heißt die umgebenden Bedingungen in den Vordergrund zu rücken, die einem Film eine bestimmte pädagogische Bedeutung oder Funktion verleihen sollen. Für den Lehrfilm ist dies – erstens – etwa durch die Kombination von Filmen mit anderen Medien wie Beiblättern, Dias oder Vortragsmanuskripten häufig geschehen. Manchmal wurden diese eher spontan miteinander kombiniert, häufig wurden Filme und andere Medien im Verleih als Medienpakete angeboten wie in diesem Beispiel hier:

Medienkombination GRG6 Rahlgasse
Filmbox für den Film "Lichtgeschwindigkeit – Römer" (1974), Archiv: GRG6 Rahlgasse, Physiksammlung

Zweitens gehört zu den Praktiken des Lehrfilms auch die Frage, wer unter welchen Bedingungen bestimmen kann, wann ein Film für wen "lehrhaft" ist. Darüber wurde seit Anfang der 20. Jahrhunderts nicht nur lebhaft gestritten. Die Grenzen des Lehrfilms sollten durch Gesetze und Erlässe geregelt und durch Kommissionen festgelegt werden. Da für zertifizierte Lehrfilme oft Steuererleichterungen vorgesehen waren, betrafen diese Regelungen auch die wirtschaftliche Organisation der Produktion von Lehrfilmen. Hier eine Seite aus einem staatlichen Gutachten von 1932, ob und wo der Film "Gipfelsprengung auf dem steirischen Erzberg" als Unterrichtsmittel zugelassen werde:

Filmbegutachtung Erzberg
Filmbegutachtung "Gipfelsprengung am Erzberg"; OeStA, AVA, Unterricht, UM, allg-Akten, Film, K. 1894, Sig. 10G, 1932-1940, ZL. 34.335/5/30.

Drittens eignet sich der Begriff "Praktiken" in seiner sozialwissenschaftlichen Tradition (etwa bei Michel de Certeau), um nicht nur über das Handeln großer Institutionen, sondern auch über abweichende und widerständige Weisen des Arbeitens mit Filmen nachzudenken. Die Geschichte des Lehrfilms ist, nicht nur in Österreich, geprägt von einem Spannungsverhältnis zwischen lokalen Initiativen und Versuchen der Zentralisierung und Standardisierung. Diese Spannung zeigt sich um 1950 etwa darin, dass mit Mitteln des Unterrichtsministeriums Klassenzimmerprojektoren entwickelt wurden, die bestimmte Arten, Filme zu zeigen, in ihrer Konstruktion verhindern sollten. So war es nicht möglich, einen Film bei Stillstand oder Rücklauf zu projizieren. Das führte zu einigem Protest, und auch in Filmkopien aus den 1980er Jahren fanden sich noch Spuren dieser offiziell verpönten Verwendungsweise von Filmen in Form durchgebrannter Filmkader. Hier einer dieser Apparate, der Ditmar 1006:

Ditmar 1006
Der 16mm-Schmalfilmprojektor "Ditmar 1006" (Fotografie: Josef Sikora, 1950; Archiv: Pädagogische Hochschule Steiermark)

Viertens betrifft die Frage nach Praktiken auch die Distributions- und Vorführungsgeschichte von Filmen. Für Unterrichtsfilme im Schulbetrieb betrifft dies etwa die Frage, wie lange ein Film im Verleih gehalten und wann er ausgetauscht wurde. In manchen Schriften ist von einer 'Lebensdauer' von fünf bis zehn Jahren die Rede, das hing aber sowohl von der Veränderung der Filmprojektionstechnik wie auch der abgebildeten Prozesse ab. So lässt sich in einem Katalog der SHB, der Lehrfilmstelle des Unterrichtsministeriums, von 1963 ablesen, dass noch zahlreiche Filme aus der Produktion der nazideutschen Reichsanstalt für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht (RWU) im Einsatz waren, die nach 1945 als politisch unproblematisch und in folgenden Jahrzehnten als weiterhin lehrrelevant eingestuft worden waren. Geringfügige Retouchen passten die Filme den veränderten politischen Gegebenheiten der Zweiten Republik an: Aus dem Unterrichtsfilm "Deutscher Bernstein" (siehe Titelbild unten) wurde im SHB-Katalog und der österreichischen Fassung "Bernstein", der ansonsten identisch die Gewinnung und Bearbeitung des Edelsteins zeigt.

(Joachim Schätz)

Deutscher Bernstein
Titelbild des NS-deutschen Unterrichtsfilms "Deutscher Bernstein" (1940, RWU, Archiv: Bundesarchiv Filmarchiv), im Einsatz in Österreich bis mind. 1963